Schattenseiten der Selbstorganisation II

Der Umgang mit gruppendynamischen Spannungen

Schattenseiten der Selbstorganisation

Schattenseiten der Selbstorganisation II – Der Umgang mit gruppendynamischen Spannungen

Marc Wethmar - April 2022

Klaus Eidenschink hat Anfang des Jahres die möglichen unerwünschten Nebenwirkungen von New Work beschrieben und aufgerufen, sich aktiv mit diesen Schattenseiten zu befassen. Er lädt dazu ein, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die aus der praktischen Erfahrung in dem Thema, dazu etwas zu sagen haben, Antworten dazu formulieren oder auf schon zugängliche Antworten hinweisen. Das hat mich angeregt zu dieser Artikelserie.

Seit vielen Jahren begleite ich Organisationen, die sich auf den Weg machen zu mehr selbstorganisierten Arbeitsformen. Oftmals erlebe ich in der Anfangsphase eine unreflektierte Euphorie bei den Beteiligten. Ich vermute, dass es u.a. daherkommt, dass New Work eine Sehnsucht auslöst nach humaneren Arbeitsformen.

Ich selbst war auch anfangs zu euphorisch und fokussierte mich einseitig auf die Vorteile dieser neuen mehr selbstorganisierten Arbeitsformen, ohne mit den Beteiligten frühzeitig und sorgfältig genug die möglichen Nachteile zu reflektieren und proaktiv anzugehen.

Es lohnte sich für mich, die Schattenseiten zu reflektieren und in Bezug zu setzen zu meiner Beratungspraxis. Diese Artikelreihe ist das Ergebnis meiner persönlichen Auseinandersetzung mit den Schattenseiten von New Work, insbesondere der Selbstorganisation, die für mich spezifischer das Thema der geteilten Authorität und Verantwortung umfasst.

Dieser 2e Artikel beschäftigt sich mit der Frage von Klaus Eidenschink: Welche Konzepte stellen sicher, dass die problematischen gruppendynamischen Entwicklungen in Arbeitsumgebungen, die sich durch wenig formale Strukturen und ohne Hierarchie sehr häufig bilden, nicht dominant werden? Wo werden in New Work diese Themen diskutiert und aufgegriffen?

Wenn eine Transformation stattgefunden hat zu einer Organisation, in der die klassische disziplinarische Führungsrolle nicht mehr in der alten Form existiert, so bedeutet dies natürlich keinesfalls, dass weniger gruppendynamische Prozesse mit dysfunktionalen Auswirkungen (Frust, Rückzug, etc.) stattfinden. Ich vertrete die These, dass negative Auswirkungen auf die Gruppendynamik sogar zunehmen können, gerade am Anfang dieses Weges. Mit gruppendynamischen Spannungen meine ich vor allem Spannungen auf der Beziehungsebene, die sich zwischen zwei oder mehr Menschen abspielen.

Viele von uns haben schon einmal eine engagierte und sozial kompetente Führungskraft erlebt und kennen die wohltuende Wirkung im sozialen Feld. Eine Führungsperson, die Spannungen im Team rasch spürt und prioritär angeht nach dem Prinzip „Störungen haben Vorrang“ und diese gut schlichten und ausgleichen kann, gibt dem Team Halt und Orientierung. Wenn ein Team sich selbst überlassen wird, ohne diese Führungsrolle, so besteht durchaus die Gefahr das das „Hauen und Stechen“ richtig losgeht. Es ist nicht zu unterschätzen, welche negative Auswirkungen es auf ein Team haben kann, wenn diese Orientierung und haltgebende Führung nicht mehr vorhanden sind.

Der notwendige Reifeprozess im Team

Ich halte es demzufolge für naiv und sogar fahrlässig, den Umgang mit gruppendynamischen Spannungen einfach dem Team zu überlassen. Zu gross ist das Risiko für Verwerfungen im Team, mit in Folge negative Auswirkungen (Kündigungen, etc.). Auch hier ist es entscheidend, die Veränderungen bewusst zu gestalten, mit der Aufmerksamkeit auf Haltungen und Kompetenzentwicklung («inner work»). Hierfür gibt es für das Team eine Menge von möglichen Fragen zu klären, um den kontinuierlichen Reflexions- und Reifeprozess zu gestalten.

Leitfragen können dabei sein:

  • Was heisst es für jeden Einzelne:n in unserem Team, wenn ohne Teamleitung im klassischen Sinne alle gleichwertig die Verantwortung tragen für das Angehen von gruppendynamischen Spannungen?
  • Welche Fähigkeiten benötigen wir, um mögliche gruppendynamischen Spannungen frühzeitig anzugehen?
  • Welche Haltungen im Team wollen wir im Umgang mit gruppendynamischen Spannungen entwickeln und fördern?

Mögliche Antworten darauf:

  • Indem wir uns bewusst Zeit nehmen, regelmässig an unserer Vertrauensbasis und Beziehungsqualität zu arbeiten, um für uns einen sicheren, angstarmen Ort zu schaffen, der ermöglicht, Spannungen auszusprechen. Manche nennen das den «safe place» oder auch die psychologische Sicherheit im Team.
  • Indem wir regelmässig im Team unsere Beobachtungen, bezogen auf unsere Gruppendynamiken teilen und reflektieren, bei Bedarf unterstützt durch einen (internen) Coach.
  • Indem wir uns kontinuierlich befähigen, selbstbestimmt und konstruktiv Spannungen anzusprechen.
  • Indem wir am Ende von Besprechungen die Gruppendynamiken, die wir beobachtet haben, offen ansprechen, Erkenntnisse teilen und mögliche Schlussfolgerungen ableiten bezogen auf was wir in der nächsten Besprechung anders angehen wollen.

Eine andere Haltung im Umgang mit Spannungen

Wenn es um gruppendynamische Spannungen geht, so beobachte ich bei einer Vielzahl der Organisationen, die ich in den letzten 20 Jahren begleitet habe, einen grossen Respekt bis hin zu starker Abneigung gegenüber einem proaktiven, offenen Umgang damit. Gruppendynamische Spannungen werden in vielen Teams als etwas Bedrohliches und Unerwünschtes betrachtet, was man vermeiden sollte. Dafür gibt es viele (systemische) Erklärungsmöglichkeiten, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte.

Für einen selbstverantwortlichen Umgang mit gruppendynamischen Spannungen ist es wichtig, dass man lernt Spannungen nicht prinzipiell als etwas störendes zu empfinden, sondern als etwas natürliches, was stattfindet überall dort wo Menschen zusammen arbeiten. Etwas was sich bewusst gestalten lässt, um mögliche dysfunktionale Auswirkungen frühzeitig zu erkennen und anzugehen.

Es kann dabei hilfreich sein, dass man die Organisation als einen lernenden Organismus betrachtet, in dem Spannungen wertvolle Hinweise geben auf etwas was Beachtung und Aufmerksamkeit erfordert, zu Gunsten der Weiterentwicklung der Organisation. Spannungen proaktiv ansprechen wird dann zum "Treiber" der fortlaufenden Organisationsentwicklung.

Diese Haltung kann bei den Mitarbeitenden nicht vorausgesetzt werden, sondern kann nur durch stetes Reflektieren und Befähigen entwickelt werden. Dies benötigt Zeit. Zeit für regelmässige Reflexion der eigenen Haltungen, aber auch Zeit um persönlich und als Team von Erfahrungen zu lernen im Umgang mit Spannungen und daran zu wachsen.

Für diese andere Haltung bei den Mitarbeitenden ist es sehr wichtig, dass sich diese Haltung bei den Mitarbeitenden mit übergeordneten Führungsrollen manifestiert in ihrem alltäglichen Tun. In Bezug auf diese andere Haltung haben diese Rollenträger:innen eine Vorbild- und Schlüsselfunktion. Das ist kein Widerspruch zu der Selbstorganisation.

Auf diese Weise kann der Reifeprozess des Teams bewusst gestaltet werden im Umgang mit der neuen Realität, ohne klassische Führungsrolle, die bisher vieles auffangen und ausgleichen konnte. Das kann anspruchsvoll sein, denn natürlich bringen die Beteiligten, auf Grund ihrer Persönlichkeit, Erfahrungen und Sozialisierung unterschiedliche Voraussetzungen mit im Umgang mit gruppendynamischen Spannungen.

Verbindliche Strukturen für Gruppendynamische Spannungen

Ich erlebe immer wieder, dass viele meinen, mit dem Abbau von Hierarchiestufen oder dem Wegfall der klassischen Führungsrolle benötigt es weniger Strukturen. Ich vertrete das Gegenteil, es benötigt mehr verbindliche Strukturen wenn die formale Hierachie abnimmt. Warum? Die klassische Führungsrolle umfasste u.a. die Aufgabe Strukturen zu schaffen für das Team. Wie heisst es doch so schön: die Führungskraft ist verantwortlich, die Rahmenbedingungen für gutes Arbeiten zu schaffen. Was auch beinhaltet, dass bei Spannungen Sorge getragen wird, dass etwas unternommen wird um die Spannungen aufzulösen.

Wenn diese Aufgabe jetzt in der Verantwortung aller Mitarbeitenden liegt, so benötigt es vereinbarte, verbindliche Strukturen, die transparent und leicht nutzbar sind. Das muss nicht beengend sein, sondern gibt allen Mitarbeitenden die gleichen, sichereren Rahmenbedingungen sich einzubringen, vorausgesetzt die Strukturen sind «niederschwellig», das heisst unkompliziert zu nutzen und leicht verständlich. Die Bedeutung von verbindlichen Strukturen (Sitzungsformate, Absprachen, Vorgehen, etc.) nimmt somit zu. Ohne diese besteht das Risiko, dass eine informelle Schattenhierachie sich entwickelt mit in Folge viele dysfunktionale Gruppendynamiken.

In unserem Kontext heisst dies, dass es unerlässlich ist, nebst dem kontinuierlichen Arbeiten an den Haltungen und Kompetenzen, verbindliche Strukturen zu vereinbaren, um gruppendynamische Spannungen angehen zu können. Dafür gibt es viele Optionen. In einigen Organisationen nennt man diese Formate z.B. «Tension Meeting». Dieses kann von jeder Person, die eine Spannung erlebt, und diese lösen möchte, initiiert werden. Oder eine Beratungsrolle, die in Anspruch genommen werden kann, wenn Jemand einen vertrauensvollen Austausch benötigt.

Klaus Eidenschink spricht in seiner Fragestellung von "wenig formale Strukturen" und "ohne Hierachie". In meinem Verständnis benötigt eine Organisation, die vermehrt auf Selbstbestimmung und selbstorganisierte Arbeitsformen setzt weniger "vertikale" formale Strukturen. Das umfasst z.B. die Anzahl der Hierachiestufen mit detailliert beschriebenen Stellenbescheibungen und Kompetenzordnungen auf jeder Stufe. Es benötigt aber im Zuge dieser Veränderung mehr "horizontale" formale Strukturen, die den vereinbarten Rahmen schaffen, den sich die Organisation gibt auf diesem Weg. In diesem Kontext: mit welchen Sitzungsformaten werden Spannungen angegangen, wer steht zur Verfügung um bei Bedarf zu unterstützen, etc..

Positive Nebeneffekte

Ein positiver Nebeneffekt dieser geteilten Verantwortung kann sein, dass jemand im Team sich im wahrsten Sinne des Wortes „entpuppt“ als ein:e geborene:r Vermittler:in, oder sensible:r Beobachter:in auf der Beziehungsebene. Davon können andere im Team profitieren. Indem sie von dieser Person etwas lernen können, oder indem sie diese Person bewusst einladen ihre Kompetenz einzubringen.

Daraus eine spezifische Rolle zu machen für das Team, würde ich mit Bedacht angehen. Denn nebst dem möglichen Rollenkonflikt besteht das Risiko, dass das Schlichten zu einfach delegiert wird an diese Person mit der Rolle und das Potential der Kompetenzentwicklung bei jedem Einzelnen nicht genutzt wird. Es ist zudem wichtig, dass wenn jemand eine Spannung im Team wahrnimmt, er oder sie lernt, die Verantwortung zu übernehmen für das Angehen der Spannung. Es ist ratsam, Rollen zu schaffen ausserhalb des Teams, die ermöglichen sich bei Bedarf Hilfe zu holen.

Fazit

Wenn der Anspruch besteht, dass gruppendynamische Spannungen selbstverantwortlich von allen Teammitglieder:innen angegangen werden sollen, so bedingt dies einen im Team bewusst gestalteten fortlaufenden Reifeprozess, bezogen auf Haltungen und Kompetenzen. Nebst dem, benötigt es vereinbarte und verbindliche Strukturen, um allen Mitarbeitenden zu ermöglichen konkrete Vorgehensweisen zu nutzen, wenn sie eine Spannung angehen und auflösen wollen.

Marc Wethmar