Presencing: Der U­-Prozess als Grundmodell in der Beratung

Ein Ansatz für tiefgreifende Veränderungen in Organisationen oder Teams. Marc Wethmar MScBA - MCV Notiz - Oktober 2010

Presencing in der Beratung I– Der U-Prozess als Grundmodell

Seit Jahren „kenne“ ich das Konzept Presencing und Theory U von Claus Otto Scharmer. „Kenne“ mit Anführungszeichen, weil es ein kognitives oberflächliches Kennen war, mit wenig persönlicher Bindung. In einer Auszeit im schönen Burgund vor drei Jahren habe ich dann erstmalig das Buch Presence gelesen, was mich sofort tief berührt hat. Woher kam diese Berührung? Im Nachklang dieser Erfahrung wurde mir das erst deutlich. In Presence sind vier Persönlichkeiten miteinander im Dialog. Claus Otto Scharmer, Peter Senge („Die fünfte Disziplin“), Joseph Jarworsky („Synchronicity“) und Betty Flowers. Der Dialog ist fokussiert auf die Frage: Wie kommt das Neue in die Welt? Der Dialog ist nicht kopfig, intellektuell, sondern ein Dialog und Austausch von ganz persönlichen, biografischen Erfahrungen zu dieser Frage. Nach den dialogischen Sektionen des Buches folgen alternierend konzeptionelle Zusammenfassungen. Was mich berührt hat, war genau diese Verbindung zwischen persönlichen, individuellen Erfahrungen die im Dialog geteilt werden und der konzeptionellen Aufarbeitung davon. Der zweite Grund meiner Berührung liegt darin, dass Scharmer einen Weg aufzeigt, auf dem das Denken durch die Weisheit des Herzens erweitert wird. Das ist seit langem ein wichtiges Thema für mich. Nun arbeite ich seit zwei Jahren mit Scharmer´s Presence und Theory U, und all seinen Facetten. Es ist viel mehr als nur ein Konzept mit praktischen Instrumenten, sondern auch ein Mindset, eine Haltung, wie man Veränderungsprozesse wahrnehmen, erspüren und gestalten kann. Bei sich selber und überall dort wo Menschen zusammenarbeiten. Es hat mich in meiner Fähigkeit Prozesse zu begleiten und zu gestalten, massgeblich beeinflusst. Ich möchte das Grundmodell des U-Prozesses kurz beschreiben und dann an einem praktischem Beispiel aus meiner Beratungstätigkeit veranschaulichen. Die 3 Grundbewegungen im U-Prozess sind: Wahrnehmen – Inne halten – Handeln. (Siehe Abbildung 1)

Abbildung 1: Der U-Prozess in seiner einfachsten Darstellung 1. Wahrnehmen: Es geht darum vorurteilslos wahrzunehmen was die Situation ist, ohne mich ablenken zu lassen von meinen Inneren (Vor-) Urteilen, Gedankenmustern, Interpretationen, Ängsten und Zynismus. 2. Inne halten: Das Wahrgenommene in stiller Reflexion auf mich wirken zu lassen, ausgehend von der Frage: Wer bin ich und was habe ich zu tun auf dieser Welt? Bezogen auf ein Team oder eine Organisation: Wer sind wir und was haben wir für einen Beitrag für diese Welt?. 3. Handeln: Der dritte Schritt ist aus den Erkenntnissen des Innehaltens, in die Handlung zu gehen, im Tun das Erkannte auszuprobieren und dabei genau wahrzunehmen was geschieht.

Ich habe die Grundbewegung des U-Prozesses in einem Beratungsmandat wie folgt eingesetzt: Ein Führungsteam eines grossen Schweizer Versicherungskonzerns ist konfrontiert mit vielen herausfordernden Rahmenbedingungen: CEO-Wechsel, neuer härterer Führungsstil, Resultatorientierung anstatt Wertschätzung, Kostensparkurs, Wirtschaftskrise und härterer Konkurrenzkampf. Sie möchten sich neu ausrichten und sich vorbereiten auf die kommenden Herausforderungen. Ein übliches Vorgehen wäre: SWOT Analyse machen, Massnahmen definieren und mit konsequenter Hand nachverfolgen. Was haben wir - im Rahmen eines sorgfältig vorbereiteten, 2-tägigen Workshops - gemacht?

  1. Unsere gemeinsame Intention erarbeiten Scharmer vergleicht es mit einem Künstler, der vor der weissen Leinwand steht. Das Was ist das fertige Bild. Das Wie ist der Prozess des Malens. Die Intention ist, wenn der Maler vor der weissen Leinwand steht und sinniert was er malen will. Diese Intention nennt Scharmer den Blinden Fleck, aus der wir etwas (Was) gestalten wollen (Wie). Aus welcher Intention wir handeln ist oft verdeckt, unbesprochen, unklar. Deshalb haben wir als erstes im Führungsteam eine Vision, ein attraktives Zukunftsbild erarbeitet. Entstanden ist dieses über einen Prozess mit geleiteten Fragen, die erst in Einzelarbeit reflektiert und dann in der Gruppe zusammengetragen wurden. Zum Beispiel: Wenn der CEO in zwei Jahren bei einer Betriebs-versammlung die Erfolge dieses Unternehmensbereichs würdigen würde, was würde er dann sagen?

  2. Wahrnehmung was ist Anschliessend haben wir eine Standort-bestimmung gemacht, ausgehend von der Kernfrage: Welche Aspekte sind in unserem Bereich wichtig, um diese Vision in den nächsten zwei Jahren umzusetzen? Wir haben uns dabei des Kreationsprozesses bedient, einem Modell mit vier Dimensionen.

Abbildung 2: Der Kreationsprozess

Ausgehend von den derzeitigen und zukünftigen Erwartungen der (internen) Kunden, dem SIE, und einem weiteren „hard fact“, dem ES: unsere Leistungen, decken die die anderen zwei „soft facts“ ab, ICH: die persönlichen Aspekte und WIR: die Zusammenarbeits-aspekte. Nachdem wir uns erst über die Bedeutung jeder der erarbeiteten Aspekte, wie zum Beispiel „Vertrauen“ (WIR), „Speditive Kundenbearbeitung“ (SIE) , „Transparenz der Prozesse“(ES) oder „Persönliches Commitment“ (ICH) geeinigt hatten, ging es darum, den aktuellen Zustand jedes einzelnen Aspekts zu bewerten indem wir die Aspekte auf Post-Its einfärbten:

  • Blau: Kronjuwelen. Bekommt viel Aufmerksamkeit, herausragend ausgeprägt. Ist einzigartig.
  • Grün: Bekommt Aufmerksamkeit. Ist im guten Zustand.
  • Rot: Bekommt viel Aufmerksamkeit, aber immer verbunden mit Spannungen und Konflikten, kommt nicht voran. Ist zäh.
  • Schwarz: Erhält kaum Aufmerksamkeit. Ist verwahrlost.

Inne halten: Das Gesamtbild unseres Bereichs, bestehend aus a. der Zukunftsvision, die einen Sog erzeugt auf uns und b. der Standortbestimmung, d.h. der ungeschminkten heutigen Realität, auf einem Flipchart mit nach den Farben geordneten Post-Ist.
haben wir auf uns wirken lassen. Die Gedanken und Empfindungen dazu wurden individuell aufgearbeitet und ausgetauscht. Eine Frage dabei war: Was sagt das Bild aus über unseren Bereich? Dies ist ein heikler Moment im Prozess, wo es wirklich darum geht, in einem Moment der stillen Reflexion, die gewohnten Denk- und Urteilsmuster abzulegen und den eigenen Bereich aus einer gesamtheitlichen Perspektive zu betrachten. Das ist der Moment des Presencings: Sich seiner ganzen Kraft, aber auch der Schwachpunkte bewusst sein (presence) und die besten Zukunftsmöglichkeiten erspüren (sensing).

  1. Handeln

Als letzten Schritt haben wir den Prozess in zwei Richtungen weiterverfolgt:

  • Was müssen wir unternehmen, um die gut und herausragend entwickelten Aspekte zu erhalten und weiter zu entwickeln so das wir den besten Zukunftsmöglichkeiten näher kommen?
  • Was müssen wir unternehmen um die Aspekte wo Handlungsbedarf besteht (zäh, verwahrlost) in die gleiche Richtung voran zu bringen? Während den zwei Tagen gab es zwischendurch immer wieder Sequenzen bis spät in den Abend, wo jeder mit jedem einen Dialog führte über die aktuelle Beziehungsqualität und die Entwicklungsmöglichkeiten. Dieses Vorgehen hatte der Bereichsleiter vorgeschlagen.

Vor kurzem traf ich den Leiter dieses Führungsteams. Er erzählte mir von der nachhaltigen Wirkung unseres Workshops. Vieles hat sich geändert seit unserem Workshop vor einem Jahr, organisatorisch und personell. Aber eines ist geblieben: Die Vision. Sie wurde schrittweise mit den nächsten Führungsstufen bis hin zur Mitarbeiterstufe weiter getragen und in Teilschritten umgesetzt. Seitdem ist sie bei den 360 MitarbeiterInnen präsent, erlebbar und wirksam. Andere Geschäftsleitungskollegen wurden neugierig, wie eine solche Entwicklung in so kurzer Zeit möglich ist. Nebst der sehr hilfreichen Methodik des U-Prozesses, war ein Schlüsselfaktor sicher auch der Leiter des Führungsteams, der mit viel Herz und Verstand dies zur Chefsache gemacht hat. Marc Wethmar, MScBA

Quellen: 1. Claus Otto Scharmer e.a. „Presence, Exploring Profound Change in People, Organizations and Society” 2006 2. Claus Otto Scharmer “Theory U, Von der Zukunft her Führen” 2009 3. Robert Coppenhagen ”Creatieregie, Visie & Verbinding bij Verandering“ 2002