Mind-Mail - Trotz physischer Distanz in Verbindung sein

Ein Erfahrungsbericht über eine achtsame Kommunikationsform mit Herz

Mind Mail

Sicher haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass Sie ein Mail oder ein WhatsApp versendet haben und keine Reaktion gekommen ist. Zu den aktuellen Herausforderungen gehört, dass Menschen sich vermehrt in ihre eigene Welt zurückziehen und die Kontakte spärlicher werden. Dieser Artikel gibt praktische Anregungen um, trotz physischer Distanz, mit den Menschen in Verbindung zu bleiben, die Ihnen wichtig sind.

Mir ist es in letzter Zeit oft so ergangen: Ich schreibe einer Person ein Mail oder ein WhatsApp und es folgt tagelang nichts, keine Antwort, keine Reaktion, nicht mal ein Emoji. Ich mache mir in Folge meine Gedanken. Geht es der Person vielleicht schlecht, sollte ich anrufen? Aber vielleicht wünscht sie sich ja im Moment keinen Kontakt? Oder ist es im Spam gelandet? Oder ich fange mich an zu ärgern und es kommen wilde Hypothesen, dass die Person z.B. keinen Kontakt mehr mit mir will, weil ich in der letzten Begegnung vielleicht zu forsch war.

Der Geistesblitz: «Mind-Mail»

Heute Morgen sass ich in einem Unterstand im Wald, nach meiner Velotour im strömenden Regen. Ich mache meine morgendlichen Achtsamkeitsübungen. Es ist noch stockdunkel, ein Vogel kreischt dicht neben mir.

Plötzlich kommt mir jemand in den Sinn. Seit vielen Jahren bin ich mit ihm befreundet und geschäftlich verbunden. Er lebt weit weg in einem anderem Land. Ich vermute, dass er mir gerade kritisch gesinnt ist: Er meldet sich sehr selten und reagiert auf meine Mails erst nach gefühlten drei Wochen. Ich überlege, ob ich dies endlich mal ansprechen soll. Dann bekomme ich plötzlich aus dem Nichts eine Idee, einen Geistesblitz. Ich könnte ihm ein wohlwollendes «Mind-Mail« senden. Dieser Begriff «Mind-Mail» spricht mich an. Ja, ich kann dieser Person gedanklich ein «Mind-Mail» mit meiner ehrlichen Wertschätzung senden. Ein "Mind-Mail" mit Herz. Ohne den Anspruch oder die Erwartung, dass etwas zurückkommt.

Es ist ein «loving act of kindness» wie Nipun Mehta, ein Meister im voraussetzungslosen, liebevollen Umgang mit Menschen, es mir vor einem Jahr in meiner Achtsamkeitsausbildung gelehrt hat. Wahrscheinlich wirkt auch das The Guardian-YouTube-Video von Charles Eisenstein nach bei diesem Geistesblitz. Gestern sah ich diesen kurzen Film, am Schluss eines langen Arbeitstages. Charles Eisenstein ist ein glühender Verfechter der gift-economy (Schenk-Ökonomie). Der Titel des Films: “In a gift economy the more you give, the richer you are”. Also kam das “Mind-Mail” doch nicht aus dem Nichts.

Jetzt kommt mir ein langjähriger enger Freund in den Sinn, der weit weg in San Francisco lebt. Er hat eine schwer demente Frau, die er seit vielen Jahren zu Hause pflegt, neben seinem Beruf. Sie ist im üblichen Sinne nicht mehr ansprechbar und kann nicht mehr sprechen. Sie muss mit Nahrung versorgt werden und benötigt Windeln. Ich sende diesem Freund ein «Mind-Mail», indem ich mich innerlich tief verbeuge vor seiner voraussetzungslosen Liebe und Hingabe zu seiner Frau.

Noch jemand kommt mir in den Sinn, mit dieser Frau habe ich es gerade nicht leicht. Ich habe die Vermutung, dass sie etwas gegen mich hat, dass sie mich nicht mag, dass ich sie irritiere. Ich erlebe sie in der Kommunikation zu mir kühl, wenig herzlich. Ich sende ihr nun ein weiteres «Mind-Mail» indem ich ihr in Gedanken sende: «Liebe ....., ich akzeptiere Dich so, wie Du bist».

Eine vierte Person kommt mir in den Sinn, ich kenne sie seit vielen Jahren, sie lebt in meiner ersten Heimat Holland und hat den gleichen Beruf wie ich. Sie ist vor kurzem mit dem Mountain Bike schwer gestürzt und ist nun querschnittsgelähmt. Sie lebt in Trauer, im Abschied nehmen von ihrem «alten Leben» und tastet sich an das «neue Leben» heran. Ich hatte gestern noch WhatsApp Kontakt zu ihr und sende ihr nun ein weiteres «Mind-Mail» mit meinem tiefsten Mitgefühl.

Unmittelbar hat dieser Vorgang etwas Befreiendes für mich. Ich hege keinerlei Erwartungen, was mit meinem «Mind-Mail» passiert. Auch keine Neugierde, ob dieses «Mind-Mail» angekommen ist oder ob eine Antwort kommt.

Derselbe Freund aus Kalifornien sagte mir in einer virtuellen Begegnung vor ein paar Wochen, dass er sehr wohl mit seiner Frau kommunizieren kann und auch Signale von ihr erhält. Wenn er zum Beispiel, während dem er ihr zu essen gibt, eine Nachricht auf dem Smartphone liest, so wird sie unruhig. Wenn er Achtsamkeitsübungen macht, so spürt er, wie ihr Atem ruhiger wird. Er sagte mir, dass wenn das Internet nicht erfunden worden wäre, dass wir beide dann in Gedanken miteinander kommunizieren könnten heute. Nach der Begegnung hallt diese starke These bei mir nach. Ich weiss, dass die Aborigines (Australien) diese innere Form der technikfreien Kommunikation über grosse physische Distanzen beherrschen.

«Mind-Mail» in der Kommunikation mit Mitarbeitenden

Neulich las ich von einem Tipp, wie man als TeamleiterIn sich auf eine bevorstehende virtuelle Teamsitzung vorbereiten kann, indem man sich nicht nur auf die Inhalte sondern auf die Menschen in dem virtuellen Raum einstimmt. Man erstellt ein Team-Kartenset, indem man mit Spielkarten sein Team abbildet, das heisst die Fotos der TeamkollegInnen jeweils auf eine Spielkarte klebt. Nun geht man als TeamleiterIn vor dem Meeting Karte für Karte durch und überlegt sich, wie es der Person im Moment wohl geht, was man weiss darüber, was man vermutet. Das Ganze dauert 4-5 Minuten. Ich war beim Lesen sofort überzeugt, dass dies eine ganz andere Präsenz schafft und dass, nicht nur virtuelle, auf diese Weise vorbereitete Meetings, eine andere Qualität bekommen können. Ich möchte diese Form von Vorbereitung integrieren in meine Arbeit mit meinen KundInnen.

«Mind-Mail» in der Kommunikation mit Kunden

Eine andere Begegnung kommt mir in den Sinn, sie ist viele Jahre her. Ich war eingeladen bei einem offiziellen Anlass und sass neben einem lokalen Juwelier, der im ganzem Land seine Kunden hatte. Er sagte mir, dass er, bevor er einen Kunden anruft, ein paar Augenblicke an diese Person denke, wie die letzte Begegnung war, wie es ihr wohl heute geht. Dann erst nimmt er den Hörer in die Hand und ruft an. Er meinte, dass er oft die Erfahrung gemacht habe, dass der Kunde dann am Telefon sagte: Ach, das ist aber nett, dass Sie anrufen, soeben musste ich an Sie denken. Ich fand das damals kurios, es beeindruckte mich aber sehr. Auch hatte ich Zweifel, ob es ehrlich gemeint war oder einfach ein kommerzieller Trick ist. Immer wieder praktiziere ich es mit meinen Kunden und beobachte eine andere Präsenz bei mir in der Verbindung zum Gegenüber.

«Mind-Mail» als ressourcenschonende achtsame Kommunikationsform

Mich begeistert diese Form von achtsamer Kommunikation mit «Mind-Mail’s» zunehmend. Auch wenn der Begriff leicht missverstanden werden kann. Denn ohne «Mind» funktioniert es nicht, aber allein mit «Mind» auch nicht, es benötigt die Verbindung vom "Mind" zum Herz. Ich möchte mehr «Mind-Mails» mit Herz versenden und meine Erfahrungen damit machen, erforschen, was es für einen achtsamen "Herz-Raum" benötigt, und was es bei mir und anderen auslöst.

Das Einzige, was es dafür benötigt, ist den Raum, den ich mir dafür gebe und meine voraussetzungslose Achtsamkeit. Absichtsvoll, jedoch ohne jegliche Erwartung agieren, denn die sind hier fehl am Platz. Zudem ist es sehr energiesparend, es benötigt nur meine innerliche Energie, keinen Server, keinen Bildschirm, kein WLAN. Es benötigt kein Tool, ich bin das Tool!

Zwei Tage nach meinem «Mind-Mail» traf ich übrigens die 3e Person – von der ich vermutete dass sie etwas gegen mich hat – virtuell, sie kommunizierte sehr aufmerksam mit mir. Zufall?

Angeregt? Versuchen Sie es doch mal. Es kostet nichts.

Marc Wethmar