Achtung Viruswarnung: Die Changemüdigkeit hat zugeschlagen!

Hilfreiche Perspektiven für eine Gesinnungsänderung Marc Wethmar MScBA - ICT Magazin - Oktober 2007

Ist Ihr erster Gedanke beim Lesen dieses Titels «Nicht schon wieder was zum Thema Changemanagement» oder «Da kommt schon wieder ein Schlauer und meint er hätte das Allheilmittel gefunden, ich kann es nicht mehr hören! Es funktioniert doch sowieso nicht!». Dann gehören Sie möglicherweise zu den Menschen die infiziert sind vom Chronischem-Change-Müdigkeits-Virus. Dieser Virus ist weit verbreitet. Die Symptome sind: Frust und Resignation, dass so viele Changeprojekte so wenig Nachhaltiges bewirken. In Folge dessen verspürt man wenig Lust sich auf anstehende Changeprozesse einzulassen.

Ich biete Ihnen kein Rezept um diese Symptome zu behandeln, aber grundlegende Perspektiven die zu einer Heilung beitragen können.

Diagnose Erst einmal müssen wir unsere Ausgangslage untersuchen und beschreiben. Das ist mühsam, ich weiss. Es ist aber unumgänglich die eigene Situation zu erfassen. Aus eigenen Erfahrungen als Berater in verschiedenen (Gross-)Unterneh- mungen stelle ich immer wieder fest: * Changeprozesse werden ohne Commitment der Betroffenen umgesetzt, sondern nach dem Prinzip «Das schaffen wir schon». * Die «weichen» Faktoren werden allenfalls benannt, aber nicht wirklich ernst genommen (Einfluss auf die Arbeitszu- friedenheit, emotionaler Widerstand von der Basis, Betrof- fene zu Beteiligte machen, etc...). * Der Fokus liegt dabei auf das Entwerfen von Prozessen, mittels Power Point gut dokumentiert, aber kaum bei den Beteiligten verankert sind. * Der Weg ist von Oben (Top-Management) nach Unten (Betroffene), oft über (moralischen) Druck. Anders gesagt: Men- schen werden verändert, als währen sie eine Ressource, FTE’s (Full Time Equivalents). * Die Führungskräfte sehen den Veränderungsbedarf vor allem bei den Anderen und nicht bei sich selber. Es werden Appelle lanciert, man hält sich aber selbst nicht daran. * Die Betroffenen erleben vor allem eins: den Druck von oben sich loyal zu verhalten, denn dass wird belohnt. Sie haben ja die Wahl, love it or leave it. Die, die können und wollen, verlassen die Organisation.

Das Verhängnisvolle daran ist, dass aus den vielen gescheiterten Changeprojekten kaum etwas gelernt wird. Fehler wiederholen sich ständig und das frustriert viele Beteiligte und Betroffene, was in weiterer Folge zur besagten chronischen Changemüdigkeit führt. Welche Grosswetterlage gehört zu dieser chronischen Changemüdigkeit? * Die Stabilität in der Organisation nimmt ab, Veränderungen sind zunehmend ein Dauerzustand; Wertesysteme erodieren und verlieren ihre stabilisierende Funktion. * Die Geschwindigkeit von Veränderungen nimmt drastisch zu,die nächste Veränderung überholt die Vorherige. * Es herrscht eine reaktive Hektik, man wird zum Getriebenen. * Die Komplexität der Veränderungen nimmt zu. Zum Teil macht man Dinge komplexer als sie sind, manchmal weil man deutliche Botschaften aus reiner Feigheit verschleiern will. * Der Individualismus in der Gesellschaft nimmt stark zu, die Menschen sind immer mehr auf sich allein gestellt; * Gleichzeitig nimmt die Bindung der Menschen zu Ihren Kollegen, zum Arbeitsinhalt, zum Unternehmen ab. MitarbeiterInnen fühlen sich mehr und mehr «disconnected».

Was ist das Fazit der Diagnose? Die bisherigen Verhaltens- weisen haben ausgedient, scheint es. Es hilft nicht sich noch mehr an zu strengen und noch weitere Erfolgsfaktoren krampfhaft um zu setzen. Die wiederkehrenden Symptome weisen darauf hin dass es einer sehr grundlegenden Neu- ausrichtung bedarf, eine kurzfristige Vitaminspritze hilft also nicht.

Therapie Es ist wie Einstein schon sagte: Willst Du ein Problem wirklich lösen so musst Du es auf einer anderen Ebene angehen als wo sich das Problem befindet. Leicht gesagt, was heisst das jetzt bezogen auf das nachhaltig ausrichten und führen von Veränderungsprozessen?

Selbsterkenntnis der eigenen Grenzen Die Erkenntnis, dass unsere gewohnten Denk- und Handlungsweisen, zu oberflächlich sind um den Kern der Problematik zu treffen, ist der erste wesentliche Schritt. Wir wissen dass uns das nicht leicht fällt, an zu nehmen dass wir nicht weiter kommen auf dem gewohnten Pfad. Wir können uns aber dazu entschliessen neue Wege aus zu probieren.

Abbildung 1: Wie können wir unsere Aufmerksamkeit erweitern?

Vertiefen und erweitern unserer Aufmerksamkeit Wie können wir unsere vorhandenen Kräfte anders ausrich- ten? Indem wir unsere Aufmerksamkeit vertiefen und erweitern. Ich möchte hier das 4-D-Modell der Aufmerksamkeit einführen als ein Hilfsmittel dazu. (Siehe Abbildung 1)

1e Dimension: Auto-Pilot Die 1e Dimension kennen wir aus vielen Besprechungen, die völlig nutzlos ablaufen und wo wir unsere Aufmerksamkeit vor allem nach Innen richten. Anders gesagt: Wir schalten den Automatischen Pilot ein. Folge: Kein Kontakt mit dem Gegenüber, es passiert nichts Neues, es bewegt sich nichts. Manchmal ist dieser Selbstschutz-Mechanismus auch notwendig (Survival-mode).

3e Dimension: Respekt und Interesse Um diese 3e Dimension zu erreichen benötigt es eine grössere Anstrengung und auch Mut. Es geht darum sich wirklich auf die Sichtweisen des Anderen ein zu lassen. Stephen Covey nennt das: «Ich muss es erst selber verstehen bevor ich mich verständlich machen kann.» Dafür müssen wir unsere Reflexe und Gewohnheiten loslassen. Echte Aufmerksamkeit, Respekt und Interesse für den Standpunkt des Anderen zeigen, ohne unseren eigenen Standpunkt restlos auf zu geben, darum geht es.

4e Dimension: Das Ganze überblicken Der Schlüssel zur 4ten Dimension ist wieder die Aufmerksamkeit. Wir können hier lernen unsere Aufmerksamkeit bedingungslos zu richten auf das was uns umgibt, in all seinen Facetten. Das Wunderliche ist, dass diese Art von Aufmerksamkeit sich selbst vermehrt, es ist ansteckend, lässt uns lachen, Spass haben und auch Emotionen zeigen, es beflügelt und begeistert uns, zeigt Synergien auf. Es kann eine Art Flow-Gefühl entstehen, das sind seltene und schöne Momente. Claus Otto Scharmer nennt dies «Open mind, open heart and open will», die vorrausetzungslose Aufmerksamkeit. Ich muss mich dafür wirklich lösen können von alten Denk- und Handlungsgewohnheiten, damit ich mich auf diese neue Dimension einlassen kann. Die Wertschätzung von allem was schon da ist, statt unserer routinierten Defizit-Fokussierung, ist hier sehr wichtig. Diese Dimension der Aufmerksamkeit hilft uns die Zusammenhänge rascher zu erkennen und zu verstehen. Sie gibt uns auch die Möglichkeit die richtigen Prioritäten zu setzen. Sie schafft auch den anderen Beteiligten den benötigten Raum, um zu neuen Gedanken zu kommen.

Commitment schaffen bei den Betroffenen Wie schaffe ich als Führungskraft das benötigte Commitment für mein Veränderungsvorhaben? Commitment heisst für mich, dass die Betroffenen sich verbinden mit dem Neuen, mit dem Sollentwurf, dass Sie sich angezogen fühlen, aber auch dass sie darin ihre eigene Verantwortung übernehmen. Es geht also um Verbunden sein und Verantwortung übernehmen.

Abbildung 2: Wie können wir die weichen und harten Faktoren im Changeprozess verbinden und in Balance bringen?

Wie kann ich dafür den Raum schaffen? Der Kreationsprozess (siehe Abbildung 2) kann dabei ein wichtiges Hilfsmittel sein. Er schafft die Möglichkeit die weichen und die harten Faktoren miteinander in Verbindung zu bringen. Die SIE und der ES - Pol der Lemniskate (eine dynamische 8) beziehen sich auf die mehr harten Faktoren. Der ICH und WIR - Pol beziehen sich mehr auf die weichen Faktoren. Das sind nicht nur einfach Worte, sondern sind 4 Perspektiven die sich, richtig angelegt, schon bei vielen grossen und kleinen Veränderungsvorhaben als sehr klärend und vereinfachend erwiesen haben.

A. SIE – Kunden & Stakeholder Es ist wichtig den Anfang beim SIE zu machen, bei den Sicht- weisen und Bedürfnissen der Kunden und Stakeholder. Ohne Sie hat die Veränderung keine Existenzberechtigung. Hier gilt es diese Bedürfnisse und Sichtweisen voll und ganz zu erfas- sen und zu verstehen, ohne Urteil, mit Respekt und Interesse, also der dritten Dimension der Aufmerksamkeit.

B. ICH – Was ich dazu beitrage Wie kann ich mich mit den Bedürfnissen der Kunden & Stake- holder, dass heisst den Nutzern des Veränderungsprozesses, verbinden? Was kann ich, mit meinem kreativen Potential und Fähigkeiten dazu beitragen dass diese erfüllt werden? Jeder Mensch möchte im Herzen etwas Sinnvolles beitragen. Wenn Ich zudem eingeladen werden meine Leidenschaft und mein volles kreatives Potential ein zu bringen für einen sinnvollen Bei- trag so fühle ich mich verbunden und kann mich engagieren.

C.WIR-Wie wir es tun Hier kommt zur Sprache auf welche Art und Weise wir die Veränderung umsetzen wollen, wovon wollen wir uns in der Zusammenarbeit leiten lassen? Was ist uns wichtig in der Kommunikation, etc. wer übernimmt dann welche Rollen, mit welchen Kompetenzen? Oft werden in Changeprozessen aufwändige Steuerungs- und Projektgruppen installiert. Teilnehmer werden nominiert, ohne sich grundlegende Gedanken zu machen über die Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren, den Anforderungen an die Akteure und der grund- legenden Gestaltung der Zusammenarbeit.

Wichtig ist, dass keine der 4 Perspektiven dominant wird, sondern es gilt die richtige Balance zu finden. Die genannten 4 Dimensionen der Aufmerksamkeit kommen hier überall zum Tragen.

Herkömmliche Changeprozesse fixieren sich auf das SIE und das ES (Prozesse, Strukturen, Produkte etc.) als Antwort darauf. Das ICH und WIR wird nicht berücksichtigt oder nur als Nebengeräusch wahrgenommen. Man «benchmarked» die Bedürfnisse der Kunden (SIE), entwirft darauf eine intelligente Antwort (ES) und implementiert diese. Kein Wunder dass sich die Menschen mit diesen Veränderungen nicht verbinden können, denn sie fühlen sich instrumentalisiert, klinken sich aus und werden schlussendlich changemüde.

Fazit Wenn ich mit vertiefter und erweiterter Aufmerksamkeit die Bedürfnisse der Kunden und Stakeholder erfassen kann, Raum schaffe dass die einzelnen Menschen sich leiden- schaftlich mit ihrem kreativen Potential verbinden können, dies sich niederschlägt in eine grundlegend definierte und vereinbarte Zusammenarbeit, dann kann auch ein tragfähiger Beitrag des ganzen Changevorhabens nachhaltig wirksam werden. So kann vielleicht der eine oder andere chronisch «Change-Müde» zu neuem Leben erweckt werden und sich pro-aktiv einbringen.

Marc Wethmar MScBA - Oktober 2007

1 Stephen R. Covey: «Der 8e Weg», Gabal Management, 2006 2 C. Otto Scharmer: «Theory U», The Society for Organizational Learning, 2007